Ein persischer Teppich ist niemals nur ein Bodenbelag. Er ist ein Stück Literatur aus Wolle, ein gewebtes Gedicht, eine stille Erzählung voller Gefühle, Sehnsüchte und Erinnerungen. Unter allen Nomadenstämmen Irans gelten die Qashqai im Süden des Landes als wahre Meister dieser Kunst.
Ihre Teppiche sind bunt, lebendig und tragen den Herzschlag des wandernden Lebens in sich. Besonders berührend ist ein Design mit dem Namen „Do-Sar Nazem“ – wörtlich: „Nazem an beiden Enden“. Es ist weit mehr als ein Muster. Es ist ein Traum, eine Sehnsucht, eine Vorstellung von einem Zuhause, das für Nomadenfrauen oft unerreichbar war.
Ein Blick in die Geschichte
Die Qashqai sind einer der größten Nomadenstämme Irans. Seit Jahrhunderten ziehen sie zwischen Sommer- und Winterweiden hin und her. In dieser Lebensweise muss alles transportabel, nützlich und robust sein. Teppiche erfüllten genau diesen Zweck: Sie waren Schlafstätte, Schutz, Mitgift und Vermögenswert zugleich.
Doch die Teppiche waren auch eine Sprache der Frauen. Jede Knüpfarbeit war eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, Landschaften in Erinnerung festzuhalten und Identität zu bewahren. Das Motiv Do-Sar Nazem entstand genau aus diesem inneren Bedürfnis.
Was bedeutet „Nazem“?
Im Qashqai-Dialekt bezeichnet Nazem die Veranda oder den Torbogen eines festen Hauses. Ein solches Haus kannten Nomaden nur aus Träumen. Frauen, die ihr Leben in Zelten verbrachten, schufen sich beim Knüpfen ihr eigenes Haus – ein Haus aus Knoten und Farben.
Indem sie an beiden Enden des Teppichs ein solches Bogenmotiv darstellten, webten sie sich symbolisch ihr eigenes Heim. Der Teppich selbst wurde zur Heimat.
Künstlerische Merkmale der Do-Sar-Nazem-Teppiche
1. Komposition
•Charakteristisch sind die bogenförmigen Strukturen an beiden Enden, wie Eingänge oder Arkaden.
•Die Mitte ist meist gefüllt mit Blumen- und Pflanzenmustern – fast wie der Blick in einen blühenden Garten.
2. Farben
•Tiefrot: Leidenschaft, Wärme, Lebenskraft.
•Dunkelblau/Indigo: Stärke, Tiefe, Stabilität.
•Creme/Elfenbein: Helligkeit und Ausgleich im Gesamtbild.
Die Farben stammen aus natürlichen Farbstoffen wie Krappwurzel, Indigo oder Walnussschalen und verleihen dem Teppich eine erdige, lebendige Ausstrahlung.
3. Motive
•Florale Ornamente dominieren, als Sinnbild für Fruchtbarkeit und Naturverbundenheit.
•Hin und wieder erscheinen kleine Tiere wie Vögel oder Ziegen – Spiegel des nomadischen Alltags.
•Alles wirkt frei und spontan – gewebt ohne strenge Vorlagen, direkt aus dem Gedächtnis.
4. Technik
•Geknüpft mit dem symmetrischen türkischen Knoten.
•Wolle von eigenen Herden, handgesponnen und pflanzengefärbt.
•Mittlere Knotendichte, wobei Ausdruck und Authentizität wichtiger sind als Perfektion.
Die Symbolik des Musters
Traum von einem Zuhause
Die zwei Bögen stehen für den Wunsch nach Beständigkeit. In einer Welt voller Bewegung wird der Teppich zum gewebten Haus, ein Ort zum Ausruhen im Reich der Fantasie.
Spiegel des Nomadenlebens
•Säulen der Bögen: Standfestigkeit, die im realen Leben fehlte.
•Vorhang am Eingang: Schutz und Privatsphäre.
•Blumen und Felder: das endlose Weideland, das den Alltag bestimmte.
Einheit mit der Natur
Für Qashqai-Frauen war die Natur kein Außen – sie war ihr Zuhause. Deshalb explodiert das Muster förmlich vor Pflanzen und Blüten.
Emotionale und soziale Rolle
•Diese Teppiche wurden selten für den Verkauf hergestellt.
•Sie gehörten oft zur Mitgift oder waren für den Eigengebrauch gedacht.
•Jeder Teppich war wie ein Tagebuch aus Wolle – persönlich, poetisch, unauslöschlich.
Kunsthistorische Bedeutung im Vergleich
•Qashqai vs. Bakhtiari: wärmere Farben, lebendigere Gestaltung.
•Qashqai vs. Turkmenen: weniger Geometrie, mehr organische Formen.
•Do-Sar Nazem: einzigartig durch die doppelten Bogenmotive, die dem Teppich eine fast architektonische Poesie verleihen.
Heute: Markt und Nachfrage
In Europa
Sammler schätzen diese Teppiche als Kunstwerke, nicht nur als Dekoration. Ihre Spontaneität und Unregelmäßigkeit sind genau das, was sie einzigartig macht.
In den Golfstaaten
In Ländern wie den VAE, Katar oder Kuwait sind Qashqai-Teppiche besonders beliebt. Das Do-Sar-Nazem-Muster, mit seinen bogenförmigen Strukturen, erinnert an islamische Architektur und trifft damit einen kulturellen Nerv.
Chancen
Da weltweit die Nachfrage nach handgefertigten, authentischen und nachhaltigen Produkten steigt, haben diese Teppiche enormes Potenzial im internationalen Markt.
Herausforderungen
•Maschinenware untergräbt den Wert echter Handarbeit.
•Handelssanktionen erschweren den Export aus Iran.
•Verlust der Nomadenkultur: Mit der Sesshaftigkeit der Qashqai droht auch das Verschwinden dieser einzigartigen Muster.
Fazit
Ein Do-Sar-Nazem-Teppich ist weit mehr als ein Stück Wolle. Er ist ein gewebter Traum – das imaginäre Haus einer Frau, die in der Realität keins hatte.
Wer solch einen Teppich besitzt, trägt nicht nur ein Kunstwerk in seinem Zuhause, sondern auch eine kulturelle Erzählung voller Sehnsucht und Schönheit.
In jedem Knoten steckt ein Stück Leben: der Wunsch nach Sicherheit, die Liebe zur Natur, die Hoffnung auf ein Stück Ewigkeit. Deshalb gehören Do-Sar-Nazem-Teppiche zu den poetischsten Schöpfungen der persischen Nomadenkunst – und sie verdienen Bewunderung in Wohnungen, Sammlungen und Museen auf der ganzen Welt.